Partnerschaften

Anti-Kriegsjournalistin Julia Leeb und die Auswirkungen des Unsichtbaren.

Mit der Serie Faces stellen wir inspirierende Frauen vor, die in ihrer Arbeit und privat ihre eigene Sicht auf unsere Welt, auf Schönheit, Impact und Neugierde leben. Dazu gehört u.a. Julia Leeb, die in Kriegs- und Krisenregionen als Fotojournalistin arbeitet und dabei Gewalt ebenso dokumentiert wie reine Menschlichkeit.

Mit einem starken inneren Kompass und einem Fokus auf Würde, Bescheidenheit und Fürsprache konzentriert sich Julia Leeb auf Fotografie und ihre Fähigkeit, Menschen und Geschichten zu beleuchten, die in den Mainstream-Medien und der visuellen Kultur oft übersehen werden. Als Journalistin, Fotografin und Filmemacherin, die sich auf Virtual Reality spezialisiert hat, hat sie Konflikte in Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo), Ägypten, Syrien, Libyen, Afghanistan, Sudan, Irak und Iran dokumentiert. Ihr vielbeachtetes Buch, North Korea: Anonymous Country, wurde 2014 veröffentlicht und im Jahr 2017 wurde sie für ihre Berichterstattung über Frauen in der DR Kongo für den renommierten Peter Scholl-Latour-Preis nominiert. Ihr jüngstes Buch, Menschen in Zeiten der Angst, ist bereits ein Bestseller.

Sie ist überzeugt davon, dass es ihre Aufgabe ist, Ungerechtigkeiten in der Welt sichtbar zu machen, insbesondere an den Orten, die so oft unsichtbar sind. Unter anderem mithilfe von Fotografie und Virtual Reality erzeugt sie Momente, in denen der Betrachter Zeuge eines Konflikts oder Auswirkungen politischer Unruhen wird. Von ihrem Zuhause in Deutschland aus hat sie offen über die Lektionen gesprochen, die sie auf der Straße und bei ihren Aufträgen gelernt hat, und darüber, was sie dazu motiviert, weiterhin Bilder zu machen.

Was hat dich dazu gebracht, mit dem Fotografieren anzufangen?

Ich bin Deutsche und meine Eltern wurden während des Kriegs geboren. In meiner Kindheit hatte ich nie direkten Kontakt mit dem Krieg, aber ich glaube, dass ein Krieg nicht dann zu Ende ist, wenn die letzte Bombe auf den Boden fällt. Der Krieg geht in den Köpfen weiter. Wirtschaftlich gesehen war die Nachkriegsgeneration sehr privilegiert, aber mental hatte sie immer noch das Gefühl, dass sich alles in einer Sekunde ändern kann. Wenn man ein Foto macht, kann man die Zeit für einen Moment anhalten. Wenn man einen Moment dokumentiert, gehört er einem und wird zu einem Beweis. Vielleicht entstand mein Interesse an der Fotografie anfangs aus dem Wunsch, einen Moment nicht zu verlieren.

Als ich vierzehn oder fünfzehn war, reiste ich nach Indien und Myanmar. Diese Reise war eine Art Wendepunkt. Ich hatte Glück, denn meine Mutter ist ein sehr mutiger Mensch. Damals hatte sich Myanmar gerade geöffnet und war eine Militärdiktatur. Ich hatte eine analoge Kamera dabei, die ich mir mit meiner Schwester teilte, und mir war klar, dass ich diese Reise dokumentieren musste. Wir besuchten Orte, über die ich nie mit meinen Freunden oder deren Eltern gesprochen hatte. Als ich dort war, war ich schockiert darüber, dass niemand diese außerordentlichen Orte kannte. Ich fühlte mich förmlich gezwungen zu dokumentieren, wie wild, schön, widerlich, grausam und großzügig die Welt gleichzeitig sein kann. Auch wenn manche Menschen aus unseren Medien, unseren Unterhaltungen und Gedanken ausgeschlossen werden, existieren sie dennoch. Der Mangel an Wissen über diese Orte - besonders die blinden Flecken - in meiner Gemeinschaft motivierte mich, meine Erfahrungen festzuhalten und zu teilen. Außerdem habe ich andere Lebensweisen kennengelernt als die mir bekannte und vertraute deutsche oder bayerische. Dieser Prozess hat mich wirklich fasziniert.

 

Hast du Regeln dafür, was du fotografierst und was nicht?

Ich glaube, das ist ein Instinkt oder gesunder Menschenverstand. Ich mache keine Fotos von toten Menschen. Ich denke auch, dass Trauer sehr persönlich ist. Wenn eine Mutter trauert, gehört dieser Moment der Mutter und nicht dem Rest der Welt. Es ist ziemlich klar, wann es eine willkommene Situation ist und wann nicht. Aktuell spreche ich mit einer jemenitischen Gruppe, die mich ermutigt, zu kommen und zu dokumentieren, was dort passiert. Diese Menschen fühlen sich von der Welt vergessen und wollen, dass man sieht, was vor sich geht. Ich spüre, wenn jemand nicht will, dass ich seine Geschichte erzähle, oder wenn er traumatisiert ist. Es gibt Wege, ein Foto zu machen, ohne aufdringlich zu sein.

Wenn ich zum Beispiel in den Nuba-Bergen im Sudan oder in Libyen bin, gelten andere Regeln, und es ist wichtig, darauf zu achten. Ich muss mich immer sehr schnell auf die jeweilige Situation einstellen. Andere Leute sagen vielleicht, „ich möchte ein ganz besonderes Bild von einer bestimmten Frau oder einem Mann auf dem Land aufnehmen“, aber man weiß nie, was man zu sehen bekommt, und es ist wichtig zu verstehen, dass man sehr wenig Kontrolle hat. Dieses Gefühl, keine Kontrolle zu haben, macht mich konzentriert. Ich muss sehr präsent sein, und die Welt um mich herum fühlt sich dann viel unmittelbarer an. Ich denke nicht über Deutschland oder Zeitungen nach, ich beobachte einfach. Mit dieser Klarheit und diesem Vertrauen bin ich dann sehr froh, dass ich die Kamera habe, diesen Apparat, der das, was ich sehe, transportieren kann.

 

Überall gibt es Konflikte, selbst „nebenan“ gibt es Konflikte. Wie wählst du aus, wohin du gehst?

Ich bin sehr daran interessiert, in Gebiete zu gehen, von denen die Leute noch nichts gehört haben. Mich reizen die blinden Flecken. Ich war zum Beispiel noch nie im Jemen, aber ich habe Geschichten gehört, die ich nicht glauben kann. Geschichten von Frauen, die auf der Straße verhaftet und als Geiseln gehalten werden. Wie kann es sein, dass niemand darüber spricht? Warum gibt es keine Bilder davon? Wie kann so etwas im 21. Jahrhundert passieren? Es sind Milliarden von Bildern im Umlauf, aber es gibt keine Bilder von unschuldigen jemenitischen Frauen.

Während des Irak-Krieges gab es kaum Bilder von irakischen Familien. Die Bilder zeigten Konflikte, Soldaten oder Terroristen. Wo waren die alltäglichen Menschen? Wenn ich das Gefühl habe, dass es keine ausgewogene Repräsentation gibt, möchte ich dokumentieren und die Lücke füllen. Genau aus diesem Grund wollte ich Nordkorea fotografieren. Die Bilder, die ich von Nordkorea kannte, zeigten Kim Jong-un und Militärparaden. In Nordkorea leben über 25 Millionen Menschen, aber es gibt kaum Bilder von ihnen.

 

Kannst du die Arbeit beschreiben, die du kürzlich in Bagdad geleistet hast?

Es gibt einen sehr interessanten deutschen Autor und Nahost-Experten namens Daniel Gerlach, der Gründer von Zenith Council. Er lud mich ein, als europäische Expertin für eine Initiative zur Förderung des Dialogs zwischen irakischen Bürgern nach Bagdad zu kommen. Die Lage im Irak ist derzeit sehr angespannt, und diese Initiative wurde ins Leben gerufen, um einen wichtigen nationalen Dialog anzustoßen. Als ich dort war, habe ich viele unterschiedliche Menschen getroffen und war überrascht, dass es in diesem Klima der Gewalt viele sehr friedliche Untergrundbewegungen gibt, von denen wir aber nichts hören. Es schien, als ob Gewalt die Hauptrolle spielt in diesem Land. Von Saddam Hussein über die amerikanische Invasion im Irak bis hin zu Al-Qaida, dem Bürgerkrieg und dem Islamischen Staat. Und dann ist da noch die systematischen Korruption.

In Bagdad habe ich Menschen getroffen, die nach Alternativen suchen und an einer besseren Zukunft arbeiten. Ich lernte jemanden kennen, der zum Zoroastrismus konvertierte, einer der ältesten monotheistischen Religionen der Welt: Dualismus ist die zentrale Idee, mit einem Vogel und zwei Flügeln als Symbol. Die Flügel mit ihren drei Federn stehen für gutes Denken, gutes Sprechen und gutes Handeln. Sie beten nicht zu Mekka, sondern zur Sonne oder zum Sonnenuntergang oder zu einer Kerze; sie beten zum Licht. Die Menschen, die ich getroffen habe, schienen so schön und pur. Ich traf eine andere Frau, die den Baha'i angehört, einer der jüngsten Religionen der Welt. Ich traf auch einen jungen Comedian, der sehr politisch war, aber erzählte, dass er genau weiss, was er sagen muss, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Es war faszinierend, in dieser Hauptstadt der Gewalt viele Bewegungen der Liebe zu beobachten, die alle zur gleichen Zeit stattfanden, aber nicht miteinander verbunden waren. Es gibt so viele junge Menschen, die Gewalt mit Liebe bekämpfen wollen. Liebe und Gerechtigkeit siegen immer. Vielleicht nicht sofort, aber am Ende definitiv.

 

Wenn du dich in diesen konfliktreichen Gebieten bewegst, woher weißt du, wem du vertrauen kannst? Und wie triffst du Entscheidungen - wie vertraut man sich selbst?

Bei dieser Art von Arbeit, bei der ich in entlegene Gebiete reise, neige ich dazu, eine kleine Entscheidung nach der anderen zu treffen, aber mit klarem Ziel vor Augen. Menschliche Grundbedürfnisse sind das, was mich dann beschäftigt. "Wo schlafe ich heute Nacht? Woher bekomme ich frisches Wasser?" Man hat keine Zeit zu denken: "Ich bin eine deutsche Frau, die in den Bergen des Sudan fotografiert."

In ärmeren Ländern sind die Menschen extrem großzügig. Es gibt soziale Verträge, die funktionieren. Es gibt Gegenden, in denen ich angesichts der Großzügigkeit und Offenheit der Menschen jahrelang leben könnte, ohne einen einzigen Cent zu bezahlen. Jeder bietet an, in seinem Haus zu wohnen oder nimmt einen kostenlos mit, und es gibt immer Einladungen zum Essen. Wenn man in New York City oder München zum Beispiel eine afghanische Frau wäre, würde niemand sagen: Komm in mein Haus und schlaf in meinem Bett. In der umgekehrten Situation passiert das die ganze Zeit.

 

Was motiviert dich dazu, mit dieser Arbeit weiterzumachen?

Mir sind schon schreckliche Dinge passiert. Ich wurde auf meinen Reisen belästigt, und ich wurde angegriffen. Als ich in Libyen war, hat jemand versucht, mich umbringen zu lassen. Wenn man so etwas überlebt, ist das ein sehr starkes und emotionales Gefühl. Als ich wieder stark und gesund war, habe ich realisiert, dass jemand versucht hatte, mich zum Schweigen zu bringen. Wäre ich von nun an zu Hause geblieben, hätten die auf die lange Sicht gewonnen. Ich will mich nicht einschüchtern lassen. Wenn die Leute keine Zeugen wollen, dann deshalb, weil sie schlechte Dinge tun. Wir haben das Internet, wir haben Kameras, wir haben Telefone, wir haben Journalisten. Und es ist unsere Pflicht, systematische Ungerechtigkeit zu verhindern. Eine Möglichkeit, das zu tun, ist zu dokumentieren, was vor sich geht.

Es gibt da draußen wirklich gute Leute, die etwas verändern wollen. Ich spiele dabei eine kleine Rolle. Ich bin nur ein Beleuchter; ich schalte das Licht an, meine Arbeit macht Dinge sichtbar. Das ist die Aufgabe des Journalismus. Dazu kommt, dass ich verstanden habe, dass Frauen in Krisen und besonders im Krieg sehr stark sind und einen ausgeprägten Instinkt haben. Wenn ich in Gegenden bin, in denen Frauen schlecht behandelt werden, zeigt sich das in der Wirtschaft, im Bildungssystem, in der Lebensweise. Wenn ich an Orte reise, an denen Frauen gleichberechtigt behandelt werden, ist das Leben besser. Die Wirtschaft ist besser, es ist schöner, Kinder lachen. Wie Frauen behandelt werden, wirkt sich auf jeden Teil einer Gesellschaft aus.

 

Wie hat dich diese Arbeit verändert?

Ich habe das Gefühl, es war ein Segen. Ich sehe mich nur noch als Transporteur zwischen den Welten. Wenn ich höre, etwas ist passiert und ich kann keine Bilder machen, verfolgen mich die Geschichten. Es ist erstaunlich, was passieren kann, wenn man eine Situation verstanden oder ein Bild gesehen hat. Viele Menschen beginnen zu helfen, sobald sie mehr wissen und sehen, was in der Welt vor sich geht. Schulen werden gegründet, Programme initiiert. Es entsteht ein Kreislauf des Guten. Ich habe die Schule nicht gebaut; ich habe nur ein bisschen Geld gespendet. Aber diese Dinge geschehen. Es gibt einen Kreislauf der Gewalt, aber das ist nicht alles. Im Spanischen sagt man: "Amor con amor se paga." Liebe wird mit Liebe bezahlt, oder Liebe wird mit Liebe belohnt. Es ist nicht immer dieselbe Person, die die Liebe zurückbekommt, oft ist es jemand anderes, aber ich glaube an diesen Ausdruck und habe gesehen, wie er sich überall auf der Welt bewahrheitet.

Dieses Interview ist Teil von "Ein anderer Blick auf Kosmetik", einer Content-Reihe, die in Zusammenarbeit mit Friends of Friends produziert wird. Jedes Profil wirft ein Licht auf Frauen, die sich der Verantwortung für ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel bewusst sind und stellt weibliche Kreative vor, die konventionelle Denkweisen in ihrem Bereich in Frage stellen. Mit Leidenschaft und Überzeugung demonstrieren diese inspirierenden Persönlichkeiten Integrität, Innovation und Neugierde. Neben Julia Leeb werden in dieser Reihe auch die digitale Modedesignerin und Innovatorin Amber Jae Slooten und die Redaktionsleiterin des The Lissome Magazine, Dörte de Jesus, vorgestellt.